Gesucht und gefunden in der Lüneburger Altstadt
Die beiden Künstler – er Schauspieler, sie Ballettmeisterin, beide unter anderem am Theater Lüneburg – waren schon lange auf der Suche nach einem besonderen Eigenheim in ihrer Heimatstadt. Durch Zufall entdeckte Kerstin Kessel das Haus in einer Immobilienanzeige in der Zeitung. „Das war der 24. April 2004“, erinnert sie sich. „Ein Samstag. Wir sind dann gleich Montagmorgen beim Makler aufgeschlagen. Er nannte uns die Adresse und Burkhard wusste sofort, um welches Haus es sich handelte.“ An dem Haus mit der blauen Tür waren beide schon oft vorbei spaziert. Jetzt schauten sie es sich genauer an, lugten durch die Fenster, erkannten schmuddelige und verwahrloste Räume, aber durch eine offen stehende Tür im Inneren auch einen kleinen Garten im Hinterhof. Einen Monat später waren Kerstin Kessel und Burkhard Schmeer die neuen Eigentümer.
Mehr als ein Jahr – genauer 15 Monate lang – musste die „alte Dame“ Auf dem Meere „verarztet“ werden, bevor Kerstin und Burkhard bei ihr einziehen konnten. „Es war eine Entdeckungstour durch Lüneburgs Geschichte“, erinnert sich Kerstin Kessel. Die heute 58-Jährige führte über die Zeit, in der sie jede freie Minute dort arbeiteten, akribisch Tagebuch mit vielen Bildern und Dokumenten. Die Alben füllen einen ganzen Esstisch. „Uns war klar, dass hier viel gemacht werden musste“, so Burkhard Schmeer, „doch das Ausmaß war uns nicht bewusst. Es gab immer wieder neue Baustellen und zuerst wurde nichts fertig.“ Doch auch wenn die „alte Dame“ viele Überraschungen barg, ließ sich das Ehepaar davon nicht entmutigen. „Wir sahen nicht, das was ist, sondern das, was es werden würde“, so Burkard Schmeer.

Drei Gewölbe und keine Wand
Gründe und Gelegenheiten zum Frust hätten sie zuhauf gehabt: „Das Haus hatte offiziell keinen Keller. Doch als wir im Erdgeschoss, Suchrinnen buddelten, um überhaupt zu wissen, wo welche Leitungen lagen, legten wir zwei Tonnengewölbe frei“, erinnert sich Schmeer. Das ganz Haus stand quasi auf einem Hohlraum. „Wir verfüllten die Gewölbe mit Steinen und Sand und verdichteten den Boden anschließend per Hand. Ein Rüttler kam nicht in Frage, das hätte das Mauerwerk nicht ausgehalten.“
Irgendwann stellten sie fest, dass eine Außenmauer fehlte. „Das Haus neigt sich leicht zu einer Seite. Nachdem wir die Vertäfelung im oberen Wohnzimmer abgerissen hatten, sahen wir einen nach oben immer breiter werdenden Spalt und konnten auf die Mauer des Nachbarhauses schauen“, so der Schauspieler. Natürlich bekam die „alte Dame“ dann eine eigene Außenwand, doch vorher musste dafür eine Betonsohle gegossen werden. Dabei fanden die Handwerker eines weiteres Tonnengewölbe.
Kuhfuß und Fäustel waren über Monate bevorzugte Arbeitsgeräte
Das Haus war beim Kauf in drei kleine Wohnungen unterteilt. „Vieles war zugebaut und die alten Holzbalken waren mit Putz zugeklatscht“, so Kerstin Kessel. Das alles habe man in mühevoller Handarbeit wieder frei gelegt. „Kuhfuß und Fäustel waren über Monate unsere bevorzugten Arbeitsgeräte“, ergänzt Burkhard Schmeer lachend.
Sie fanden viele Scherben und unzählige weitere Spuren der früheren Bewohner. „Laut Unterlagen der Stadt sollte das Haus von 1878 sein. Doch eine Bestimmung des Alters der Eichenbalken ergab, dass das Haus von 1562 sein musste. „Das muss man sich mal vorstellen“, bemerkt Burkhard Schmeer, „die Mona Lise wurde 1503 geschaffen und 1588 rückte die spanische Flotte der Armada aus, um die englische Königin Elisabeth I. zu stürzen. Zu dem Zeitpunkt stand unser Haus schon hier.“
Im Mittelalter waren es Handwerker, die das Haus bewohnten – Webermeister, Schuster und Lakenmacher. Heute ist es ein Künstler-Ehepaar. Kerstin Kessel und Burkhard Schmeer zogen am 18. September 2005 ein – ein Sonntag, so vermerkte es Kerstin Kessel im Bautagebuch. Die „alte Dame“ bietet ihnen 140 Quadratmeter Wohnfläche. Im Erdgeschoss eine großzügige Küche mit Esszimmer (das einstige Waschhaus) zum Garten hinaus, eine Bibliothek und Burkhards Arbeitszimmer, ein kleines Bad und ein Wohnzimmer mit großem Kachelofen. Im Obergeschoss gibt es jeweils ein Schlaf- und Gästezimmer, ein weiteres Wohnzimmer und ein großes Bad.
Überall zeugen Steine, Holzböden, Wände, Treppen und Decken von der Jahrhunderte alten Geschichte des Hauses. Kerstin Kessel und Burkhard Schmeer haben sorgfältig drauf geachtet, dass diese kleinen Zeitzeugen erhalten bleiben. So ist auf einem Stein in der Wand im Obergeschoss ein kleiner Abdruck eines nackten Kinderfußes zu sehen. „Da war wohl vor 460 Jahren ein kleines Kind unvorsichtig gewesen und ist auf den Stein getreten als er zum Trocknen im Hof lag“, vermutet Kerstin Kessel und streicht zart über den kleinen Abdruck. Die Deckenbalken im Gästezimmer zeugen von ziemlich großen Holzwürmern. Die Löcher haben gut und gern den Durchmesser eines Golfballs. „Die Bäume waren damals viel größer und die Holzwürmer wohl auch“, schmunzelt Burkhard Schmeer. Heute seien die Balken aber gänzlich unbewohnt, versichert der 58-Jährige.

Die einzigen Bewohner seien sie beide und vielleicht ein paar Mäuse im Zwischenraum unter den Eichenbalken im Obergeschoss, so Schmeer und Kessel. Und natürlich die „alte Dame“. Mit ihr habe man eine wunderbare Wohngemeinschaft, man habe schließlich immer nur ihr Bestes gewollt, so das Paar.
Tipp
Die Stadtführung „Rundgang durch die westliche Altstadt“ führt auch am Haus von Kerstin Kessel und Burkhard Schmeer vorbei und erzählt über die bewegte und salzige Geschichte der Hansestadt.